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Tiermedizinische Notfallversorgung: Der Crash kommt nicht! Er passiert genau jetzt!

18.03.2018

Von Ralph Rückert, Tierarzt


Was den tiermedizinischen Alltagsbetrieb angeht, ist aus Sicht der deutschen Tierbesitzer alles wie gewohnt: Es gibt viele (genauer gesagt: immer noch zu viele) Tierarztpraxen. Man kann gut und gerne nach wie vor rumtelefonieren, um den billigsten Anbieter für eine Impfung oder eine Kastration herauszufinden, weil viele kleine Praxen mit geringer Qualifikationsstufe und dünner personeller und technischer Ausstattung dieses Spielchen mitmachen müssen, um überhaupt genug Kunden zum Überleben zu haben. Aus Sicht eines bestimmten Verbrauchertypus eine recht angenehme Situation.


Kommt es aber zu einem Notfall, einer schweren Erkrankung des Tieres am Wochenende oder bei Nacht, können inzwischen viele Tierbesitzer in so einigen Regionen Deutschlands nur noch beten, dass das irgendwie gut ausgeht, denn die gewohnten Versorgungsstrukturen mit ständig erreichbaren Tierkliniken an jeder Ecke brechen gerade krachend in sich zusammen.

Das ganze System war schon seit langer Zeit krank und auf Kante genäht. Auf der einen Seite hatten wir zu viel Nachwuchs, zu viele junge Leute, die teilweise völlig naiv und uninformiert Tiermedizin studiert haben, um danach entsetzt festzustellen, dass man in den Einrichtungen, die einem rein theoretisch zu einer höheren fachlichen Qualifikation hätten verhelfen können, nur unter Bedingungen Arbeit bekommen konnte, die an die dunkelsten Zeiten des Frühkapitalismus erinnerten: Bruttogehälter deutlich unter 2000 Euro im Monat und Arbeitszeiten weit jenseits von 60 Stunden pro Woche, vorwiegend nachts und am Wochenende.


Auf der anderen Seite hatten (und haben) wir Tierbesitzer, die nicht mal ansatzweise bereit waren (und sind), betriebswirtschaftlich korrekte Gebühren zu entrichten, gerade was die Notfallversorgung bei Nacht und am Wochenende angeht. Da bekommt man gleich (und natürlich gerne öffentlich) Schnappatmung, wenn man am Wochenende nach dem Samstagseinkauf oder der Sportschau mit einem seit Wochen unter Räude leidenden Meerschweinchen in einer Klinik aufschlägt und einem dann für Untersuchung und Behandlung 150 Euro berechnet werden oder wenn die junge Kollegin, die schon seit 36 Stunden auf den Beinen ist, einem nicht mit ausgesuchter Höflichkeit begegnet. Nun, warum auch nicht? Schließlich ist es den meisten ja auch schnurzegal, unter welchen Bedingungen das tolle Schnäppchen-T-Shirt von irgendwelchen Kindern in China oder Indien zusammengenäht worden ist. Hauptsache, die Kleinen haben mit ihren blutenden Fingern keine Flecken an dem schicken Teil hinterlassen, und Hauptsache, die brutal überarbeitete, maximal unterbezahlte und inzwischen völlig demotivierte Jungassistentin in der Klinik macht auch ja nicht den kleinsten Fehler am geliebten Haustier.


So war - natürlich etwas überspitzt dargestellt - die jahrzehntelang bestehende Ausgangslage. Und dann kamen schnell hintereinander erst das Mindestlohngesetz und dann (im November 2016) die Änderung des Arbeitszeitgesetzes. Viele von uns Praxis- und Klinikbesitzern haben nicht sofort kapiert, dass genau das die Bombe war, die jetzt das ganze System zum Kollabieren bringt. Die aktuell geltenden und von den Gewerbeaufsichtsämtern auch sehr konsequent durchgesetzten gesetzlichen Regelungen machen eine 24/7-Dienstbereitschaft für den Großteil der bestehenden Kliniken mindestens unrentabel, wenn nicht gleich ganz unmöglich. Ein betriebswirtschaftlicher Experte des Bundesverbandes Praktizierender Tierärzte (BPT) hat errechnet, dass eine Klinik in der Notfallversorgung (also zusätzlich zum Normalbetrieb bei Tag und unter der Woche) 60000 Euro Umsatz pro Monat (ja, pro Monat!) generieren müsste, damit sich das unter Einhaltung aller Bestimmungen rentieren würde. Das ist unter Zugrundelegung des momentan immer noch üblichen Gebührenniveaus eigentlich nicht machbar.


Die Konsequenzen werden jetzt schlagartig sichtbar. An allen Ecken und Enden geben kleine, mittlere und sogar einige größere Kliniken ihre Zulassung zurück und arbeiten als normale (Groß-)Praxen weiter. Wie ich gerade in einer Tierarzt-Facebook-Gruppe lesen konnte, gibt es wohl in Sachsen-Anhalt inzwischen keine einzige Tierklinik mehr. Aber auch hier, im reichen Südwesten, im direkten Umfeld meiner Praxis, geben reihenweise Kliniken auf, in Neu-Ulm sogar eine AniCura-Einrichtung.


In der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift VetImpulse wird das Spannungsfeld, in dem sich Praxis- und Klinikinhaber gerade befinden, sehr schön erläutert: Die Tierärztekammern bzw. die Heilberufsgesetze fordern eine Notdienststruktur für die Patienten, die Patienten sind nicht bereit (bzw. nicht daran gewöhnt), dafür betriebswirtschaftlich korrekte Gebühren zu bezahlen, das Arbeitszeitgesetz ist so rigide formuliert, dass es selbst mit mehr Geld im System fast nicht mehr machbar ist, einen 24/7-Dienst zu organisieren. Dafür bräuchte man so viele Angestellte, dass die sich zu normalen Arbeitszeiten oder bei Flaute gegenseitig auf den Füßen stehen und in der Nase bohren würden.


Jetzt fällt (wie hier in Ulm bekanntermaßen schon geschehen) alles auf die Haustierarztpraxen zurück, deren Inhaber(innen) natürlich durch kein Arbeitszeitgesetz vor der Selbstausbeutung beschützt werden. Und da kommt dann noch der Punkt ins Spiel, dass man, wenn man nach einer durchgemachten Nacht einen Kunstfehler oder einen Verkehrsunfall baut, wegen grober Fahrlässigkeit dran ist, ohne dass irgendein Gericht die anderen erläuterten Umstände auch nur annähernd interessieren würden.


Die Lösung? Wenn wir ganz an der Wurzel anfangen, muss auf jeden Fall mehr Geld ins System, sprich: der Patientenbesitzer wird sich auf harte Zeiten einstellen müssen. Wieder laut VetImpulse kostet in Großbritannien die Inanspruchnahme von Notdienstleistungen, die von Kolleginnen und Kollegen mit doppeltem Gehalt erbracht werden, dass fünf- bis sechsfache (!) des hiesigen Gebührenniveaus. Das wiederum ist für die Mehrzahl der Besitzer nur über Versicherungen machbar. Ich kann nur (wieder mal!) jedem Besitzer, der nicht mehr als sagen wir 5000 Euro im Monat verdient, dringend dazu raten, sein Tier schleunigst in einer Tierkrankenversicherung unterzubringen. Sie werden in den nächsten Jahren und speziell in der der Notfallversorgung Preise erleben, dass Ihnen buchstäblich die Ohren wegfliegen. Im Prinzip war uns Tierärzten in Deutschland immer schon allen bewusst, dass wir auf einem Gebührenniveau arbeiten, das betriebswirtschaftlich nicht wirklich passt, aber jetzt wird uns diese Tatsache vom Gesetzgeber richtiggehend ins Hirn geprügelt.


Nehmen wir mal ein Beispiel aus dem realen Leben: Sie wohnen hier in Ulm, Ihr Hund erleidet zu nachtschlafender Zeit eine Magendrehung. Das ist ein Notfall, bei dem es auf jede Minute ankommt. In einem Artikel zu diesem Thema habe ich jedem Halter der besonders gefährdeten Rassen dazu geraten, mal die Praxen und Kliniken in seinem Umfeld zu recherchieren, die technisch und personell überhaupt dazu in der Lage sind, eine Magendrehung bei Nacht oder am Wochenende zu managen, damit man im Fall der Fälle keine Zeit verliert. Von den über zwanzig Praxen im Notdienstverbund Ulm/Neu-Ulm können nach meiner Einschätzung (und ohne Gewähr!) wahrscheinlich nur fünf oder sechs diesen speziellen Notfall ohne zeitraubende und damit lebensgefährliche Weiterüberweisung bewältigen.


Und Weiterüberweisung wohin? Die AniCura Neu-Ulm, vorher als beruhigendes lokales Sicherheitsnetz immer erreichbar, geht zu nachtschlafender Zeit inzwischen nicht mehr ans Telefon. Die nächsten (noch!) durchgehend erreichbaren Kliniken sind jetzt die AniCura Babenhausen und die AniCura Augsburg, beide für eine Magendrehung eigentlich zu weit entfernt. Also müssen Sie mehr oder weniger beten, dass die Haustierarztpraxis, die gerade Dienst hat, die Sache irgendwie stemmen kann. Aber: Selbst wenn Sie diesbezüglich Glück haben, werden sich die dann nächtens am OP-Tisch stehenden Inhaber(innen) ziemlich schnell darüber bewusst werden, dass sie da gerade eine Leistung erbringen, die man als hochqualifizierte Notfallversorgung bezeichnen kann, und dass diese inzwischen ein knappes Gut darstellt. Knappe Güter dürfen nach den Gesetzen des Marktes ruhig sehr, sehr teuer sein.


Diese sich die Nacht um die Ohren schlagenden Praxisinhaber(innen) werden damit kein grundsätzliches Problem haben, weil sie sonst nicht diesen Beruf gewählt hätten. Sie werden aber nicht wie bisher dazu bereit sein, das zu unrealistisch niedrigen Gebühren zu tun. Sie werden sich überlegen, dass sie in dieser Nacht nicht mehr ins Bett kommen werden, dass die Angestellten in der Früh erst mal eine Stunde damit beschäftigt sein werden, das Chaos im OP zu beseitigen, dass sie selbst wegen Übermüdung und Erschöpfung ihren normalen OP- und Sprechstundenbetrieb werden einschränken müssen. Und dann werden sie mit hoher Wahrscheinlichkeit zu dem Schluss kommen, dass man für diese Magendrehungs-OP statt 1500 eigentlich besser 3000 Euro oder gar noch mehr verlangen sollte.


Also, ob es uns gefällt oder nicht: Es wird sich so einiges ändern! Eigentlich ist es ja schon passiert. Und es wird noch schlimmer werden, bevor es wieder besser wird. Sie als Tierbesitzer werden bezüglich der Notfallversorgung Ihrer Tiere erstens mit deutlich höheren Gebühren rechnen und zweitens die Anspruchshaltung aufgeben müssen, dass an jeder Ecke eine durchgehend erreichbare Klinik nur darauf wartet, dass Sie sie mit Ihrem kranken Tier beehren. Noch vor wenigen Monaten konnte man in lokalen Internetgruppen erleben, dass Besitzer sich anlässlich eines (Pseudo-)Notfalles erst mal noch ellenlang über diverse Vor- und Nachteile der diversen zur Verfügung stehenden Kliniken ausgetauscht haben, bevor man dann irgendwo angerufen hat. Das hat sich erledigt, und zwar genau jetzt! Sie werden wohl oder übel nehmen müssen, was zur Verfügung steht. Dazu gehört auch, dass man eventuell mal eine Stunde fahren muss, um ein Haus höherer Versorgungsstufe zu erreichen. In Großbritannien wird das - trotz der oben erläuterten und viel besseren Ausgangsbedingungen - als völlig normal angesehen.


Mir bleiben nur zwei Bitten:


1. Tierkrankenversicherung auf die To-Do-Liste! Sie können das ignorieren, aber heulen Sie dann nicht rum!


2. Don´t shoot the messenger! Ich bin nicht schuld an der Misere, ich informiere Sie nur darüber!


Bleiben Sie uns gewogen, bis bald, Ihr


Ralph Rückert


© Kleintierpraxis Ralph Rückert, Römerstraße 71, 89077 Ulm


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