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Die Corona-Pandemie: #flattenthecurve! Jetzt!!!

14.03.2020

Von Ralph Rückert, Tierarzt


Vor genau 14 Tagen habe ich geschrieben (und dafür natürlich von einigen LeserInnen Panikmache und Hysterie vorgeworfen bekommen):  "Das als SARS-COV-2 bezeichnete Virus ist der Verursacher der COVID-19 genannten Erkrankung. Seit dem primären Ausbruch in Wuhan, China, hat sich das Virus rasant und interkontinental ausgebreitet. Ich bin - wie eigentlich alle Tier- und Humanmediziner, die ich persönlich kenne - davon überzeugt, dass die momentan zu beobachtenden Eindämmungsbemühungen der Behörden zum Scheitern verurteilt sind und das Ausrufen einer Pandemie durch die WHO nur noch eine Frage von Tagen sein dürfte.


Dieses Virus ist gekommen, um zu bleiben. Wie lange es am Ende bleiben wird, ob es uns mit dem Frühling (höhere UV-Strahlung, mehr Aufenthalt im Freien und weniger in geschlossenen Räumen, etc.) wieder in Ruhe lässt oder im Herbst ein fröhliches Comeback feiert, ob wir also von Monaten oder gar Jahren reden, kann im Moment niemand sagen. Wir werden es aber auf jeden Fall für einige Zeit als Fact of Life akzeptieren und unser alltägliches Verhalten entsprechend ausrichten müssen."

Inzwischen hat die WHO tatsächlich die Pandemie ausgerufen (dass das erst so spät passiert ist, liegt an rein politischen Gründen), die Schulen und Kindergärten sind ab Dienstag geschlossen und die Bundeskanzlerin hat vorgestern uns alle aufgefordert, alle unnötigen Sozialkontakte zu unterlassen.


Gestern morgen habe ich mich so richtig geärgert! Im Radio lief die SWR3-Morningshow mit Sascha Zeus und Michael Wirbitzky. Eigentlich mag ich die Beiden wirklich gern, aber in diesem Fall haben sie es für richtig gehalten, in trotzigem Ton ihre Wochenendpläne für Restaurantbesuche zu besprechen und sich lustig zu machen über hypothetische Leute, die zu Hause bleiben, sich in gehamstertes Klopapier einwickeln und gehamsterte Pasta essen.


Man möchte fragen: Was zur Hölle ist an der dringenden Bitte der Kanzlerin, unnötige Sozialkontakte zu vermeiden, so schwer zu verstehen? Warum geht man in dieser Situation mit der grenzwertig verblödeten Begründung, dass man ja nicht wisse, wann das mal wieder möglich sein würde, noch in ein Restaurant, wo man ja nun wirklich nicht weiß, ob das Weinglas schnell mal mit den Fingern in lauwarmem, stundenaltem Wasser gespült worden ist oder wer einem auf das Carpaccio oder die Pizza geniest hat?


Aus den Sozialen Medien (und durch Zeus und Wirbitzky!) weiß ich, dass es leider enorm viele Leute gibt, die den Knall immer noch nicht gehört haben, die die Pandemie und ihre Folgen verharmlosen bzw. auf die leichte Schulter nehmen. Diese Leute (oft jüngeren Baujahrs und damit nicht zu einer Risikogruppe gehörend) sind nach wie vor schnell dabei, sich über die von ihnen offensichtlich als annähernd unerträglich empfundenen Einschränkungen ihres Alltags (gestrichene Fußballspiele, Konzerte, etc.) zu mokieren und allen möglichen Leuten inklusive der führenden Epidemiologen und Virologen Hysterie und Panikmache zu unterstellen.


Für diese Leute habe ich hier was zum Beißen, und zwar aus einem Text, den ich vor einer Woche zwar geschrieben, aber dann unter dem Motto "Keine Panikmache!" doch nicht bzw. nur im Kollegenkreis veröffentlicht habe. Inzwischen bin ich weit jenseits des Punktes, an dem mich solche Vorwürfe noch groß interessieren würden, deshalb jetzt doch ein paar Überlegungen zum von so vielen Leuten immer noch nicht erkannten Ernst der Lage. Und, um den vorhersehbaren Einwand, dass ich mich als Tierarzt gefälligst an mein angestammtes Thema halten solle, gleich zu beantworten: Ich behaupte ganz selbstbewusst, dass der durchschnittliche Tiermediziner in der Regel über eine mindestens genau so gute, wenn nicht sogar bessere epidemiologische Sachkunde als der durchschnittliche Humankollege verfügt. Nur zur Info: Der inzwischen durch seine regelmäßige Teilnahme an Pressekonferenzen der Regierung sicher allgemein bekannte Präsident des Robert-Koch-Instituts (RKI), Lothar Wieler, ist auch Tierarzt.


Also, wo stehen wir aktuell? Wie gesagt: SARS-COV-2 ist gekommen, um zu bleiben. Wir sind im Pandemie-Stadium, das Virus breitet sich weltweit annähernd unkontrolliert aus und die von ihm ausgelöste Krankheit COVID-19 ist entgegen der völlig irrigen Meinung so vieler Besserwisser bei weitem gefährlicher als die in jeder Wintersaison unterschiedlich heftig auftretende Influenza. Richard Hatchett, der CEO der Coalition for Epidemic Preparedness Innovations (CEPI), hat COVID-19 als "the most frightening disease I've ever encountered in my career" bezeichnet. Er begründet das mit der Kombination aus ungewöhnlich hohem Ansteckungspotenzial und aus einer um ein Vielfaches höheren Letalität als bei der gewöhnlichen Influenza.


Vorbehaltlich der Entwickung und schnellen Anwendung eines Impfstoffes (der aber realistisch erst im Sommer 2021 zu erwarten sein dürfte) oder einer (für uns positiven) Veränderung von Eigenschaften und Verhalten des Erregers (steht in den Sternen), wird SARS-COV-2 die Weltbevölkerung letztendlich "durchseuchen", also annähernd 70 Prozent der Menschen infizieren. Erst dann wäre mit einem Abflauen der Pandemie zu rechnen, weil jeder Infizierte im Schnitt nicht mehr drei andere Menschen, sondern nur noch höchstens einen anstecken kann.


Gut, warum forcieren wir diesen Vorgang nicht, um es schnell hinter uns zu bringen? Warum veranstalten wir keine Corona-Parties? Weil die Letalität des Virus - im Gegensatz zu dem, was Richard David Precht, der sich inzwischen ja als Experte für buchstäblich alles geriert, öffentlich und maximal leichtfertig raustrompetet - eben absolut nicht vergleichbar mit der einer normalen Influenza-Welle ist! Wie einem jeder Epidemiologe versichern wird, ist das Berechnen der Letalitätsrate einer aktuell laufenden Pandemie aus den verschiedensten Gründen extrem problematisch. Trotzdem: Alle bisher vorliegenden Daten laufen darauf hinaus, dass irgendwas zwischen 2 und 3 Prozent der Infizierten COVID-19 nicht überleben, und das ist halt um ein Vielfaches schlimmer als bei der Influenza.


Nun gut, 3 Prozent! Hört sich jetzt ja auch nicht sooo dramatisch an, meinen viele, vor allem die Jüngeren, weil es ja vorwiegend Leute über 60 erwischt. Dazu ein ganz einfaches, aber in meinen Augen erschreckendes Rechenspielchen, bei dem ich mich, um auch ja nicht überzudramatisieren, auf eine Letalität von 1,5 Prozent beschränke: Wird die deutsche Bevölkerung zu 70 Prozent durchseucht, bedeutet das für 870000 unserer Mitbürger das vorzeitige Ende! Bezogen auf die gesamte Weltbevölkerung kommt mein Taschenrechner auf 116 Millionen COVID-19-Tote! Würde sich das so oder - was durchaus sein kann - noch schlimmer bestätigen, reden wir von einer der ganz großen Katastrophen der Menschheitsgeschichte!


Das ist aber immer noch nicht der eigentliche Knackpunkt der Pandemie, sondern die Tatsache, dass nach den aktuellen Daten aus Italien (das uns gerade mal um ein, zwei Wochen voraus ist) mindestens 10 Prozent der Infizierten in Krankenhäusern intensivbehandelt werden müssen. Selbst nach konservativsten Schätzungen werden im Rahmen des Durchseuchungsvorganges mindestens eine Million Deutsche früher oder später auf der Intensivstation landen. Deutschland hat aber meines Wissens normalerweise nur 28000 Intensivbetten, die ja schon im "Normalbetrieb" mehrheitlich belegt sind.


Sprich: Rauscht SARS-COV-2 ungebremst durch unser Land, hat unser Gesundheitssystem nicht die geringste Chance, alle schwer erkrankten Patienten angemessen zu behandeln. Wir MÜSSEN deshalb diesen Vorgang drastisch verlangsamen, wir müssen die Infektionskurve, die im Moment steil nach oben zeigt, unbedingt abflachen und zeitlich so weit wie möglich verzögern, nach dem Motto bzw. Hashtag aus der Überschrift: Flatten the curve! Schaffen wir das nicht, droht uns ein Chaos, das wesentlich mehr Menschen, auch solchen, die gar nicht an COVID-19 erkrankt sind, das Leben kosten wird.


Für "Flatten the curve" sind wir alle, jede(r) einzelne, persönlich verantwortlich, auch Zeus und Wirbitzky und Richard David Precht! Deshalb ja auch die dringende Bitte der Kanzlerin und die Mahnungen aus Italien, jetzt sofort (JETZT! Nicht nächste Woche, nicht nach einem letzten Club- oder Restaurantbesuch!) alle nicht wirklich notwendigen Sozialkontakte vollständig einzustellen. Wir brauchen den freiwilligen Lock-Down, und zwar eigentlich schon seit vorgestern! Eine Verzögerung dieser Verhaltensänderung um nur einen Tag führt fast unweigerlich zu 40 Prozent mehr Infizierten und natürlich entsprechend mehr Toten! Ganz einfach und plakativ: Wer da nicht konsequent mitzieht, bringt dadurch definitiv Menschen um! Wenn Sie mir nicht glauben mögen, wie wichtig verantwortungsvolles Handeln des Einzelnen ist, dann googeln Sie mal "Patient 31 South Korea". Diese dumme Nuss hat es tatsächlich geschafft, wahrscheinlich über 1000 Leute anzustecken und ist wohl hauptsächlich verantwortlich für die Entstehung des sogenannten Daegu-Clusters, der alle vorhergehenden und fast erfolgreichen Eindämmungsbemühungen Südkoreas mit einem Schlag zunichte machte.


Dieser Vorgang der sozialen Distanzierung ist für das „Social Animal“ Mensch extrem widernatürlich, schmerzhaft und unheimlich. Außerdem wird er sich im Fall dieser Pandemie initial als sehr frustrierend erweisen, weil ein positiver Effekt angesichts der Inkubationszeit von COVID-19 erst nach etwa zwei Wochen sichtbar werden wird. Trotzdem: "Flatten the curve" ist jetzt, in diesem Moment, der einzige Weg, diese bedrohliche Entwicklung entscheidend abzumildern. Wer das nicht kapiert oder nicht kapieren will, wer heute wegen eines neuen Sommerkleidchens shoppen geht, wer sich ins Restaurant oder (Herr Precht!) in die nächste Talkshow setzt oder sich in die Clubszene stürzt, ist in meinen Augen - und da werde ich jetzt mal dem Anlass entsprechend wirklich grob - ein maximal egoistischer und verantwortungsloser Vollpfosten!


Kommen wir zuletzt zu unseren Folgerungen für unsere Praxis: Verschiedene berufsständische Organisationen wie zum Beispiel die Österreichische Tierärztekammer raten ihren Mitgliedern aktuell, nur noch Notfälle zu behandeln. Mein Problem: Was stellt in dieser Situation einen Notfall dar? Ist eine Katze, die böse Zahnschmerzen hat, nun ein Notfall oder kann so ein Problem wochenlang auf Behandlung warten? In meinen Augen eigentlich nicht. Also werden wir versuchen, für unsere Patienten so lange wie möglich da zu sein wie immer.


Ein paar (nicht diskutierbare!) Richtlinien sind aber leider nicht zu vermeiden:


-Von zwingenden Umständen abgesehen beschränken Sie sich bitte auf eine Begleitperson für das zu behandelnde Tier.


-Fühlen Sie sich selbst gerade krank, und sei es nur wegen eines ordinären Schnupfens, betreten Sie die Praxis bitte nicht, sondern sprechen das weitere Vorgehen, zum Beispiel die Übergabe des Haustieres an uns draußen vor der Tür, zuvor mit uns telefonisch ab.


-Wenn Sie die Praxis betreten, desinfizieren Sie sich bitte sofort die Hände an dem zur Verfügung gestellten Desinfektionsmittelspender. Berühren Sie in der Praxis so wenig Oberflächen wie möglich. Ergänzend werden Türgriffe bzw. -klinken und andere Kontaktflächen nach einem engmaschigen Hygieneplan von uns desinfiziert.


-Halten Sie bitte mindestens einen Meter Abstand zu uns und den anderen Patientenbesitzern. Sehen Sie beim Eintreten in das Wartezimmer, dass sich dort schon recht viele Personen aufhalten, dann gehen Sie bitte gleich wieder ins Freie und unterrichten uns telefonisch darüber, dass Sie da sind und draußen warten.


-Wir reichen Ihnen natürlich entgegen unserer sonstigen Gewohnheiten zur Begrüßung und Verabschiedung nicht die Hand.


-Ihr Tier wird während Untersuchung und Behandlung ausschließlich von uns gehandelt. Halten Sie sich dabei gern im Sichtbereich Ihres Tieres auf, aber bitte weit genug entfernt vom Behandlungstisch.


Bleiben Sie uns gewogen, bis bald, Ihr


Ralph Rückert


 


© Kleintierpraxis Ralph Rückert, Römerstraße 71, 89077 Ulm


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