Römerstraße 71, 89077 Ulm, Tel: 0731/382766

AniCura und Evidensia: Tiermedizin als Investorenmodell?

22.07.2015

Von Ralph Rückert, Tierarzt


In den USA, in Großbritannien und Skandinavien sind sie für Tierbesitzer Alltag, hierzulande bisher noch so gut wie unbekannt: Tierarztketten in den Händen von Großinvestoren bzw. börsennotierten Aktiengesellschaften, die mit prall gefüllten Kriegskassen um die Vorherrschaft auf dem tiermedizinischen Markt kämpfen. In Deutschland wurde der Einstieg solcher Praxis- und Klinikketten bisher durch nationale gesetzliche Regelungen verhindert. Nun versuchen die schwedische AniCura Group und ihr Hauptkonkurrent Evidensia, beide Schwergewichte auf dem skandinavischen Tiermedizinsektor, von der Öffentlichkeit bisher völlig unbeachtet, einen Fuß in die Tür zu bekommen, und zwar genau hier in unserer Region. Ist das gut oder schlecht?

Weltweit ist das Interesse von Großinvestoren an der Tiermedizin erwacht. Große Tierarztketten haben sich als äußerst lukratives Geschäftsmodell erwiesen. So hat nach Angaben des Blogs "Wir sind Tierarzt" die Aktie des US-Tierklinik-Betreibers VCA (600 Kliniken) binnen Jahresfrist eine Kurssteigerung von sage und schreibe 77 Prozent erzielt.


Deutschland aber blieb diesen Ketten bislang verschlossen. Der Grund dafür ist das in allen Bundesländern geltende Kapitalbeteiligungsverbot, das im Kern festlegt, dass alle eine Praxis oder Klinik betreffenden medizinischen und geschäftlichen Entscheidungen in der Hand eines persönlich haftenden approbierten Tierarztes liegen müssen. Die internationalen Ketten könnten hierzulande also bisher allenfalls Minderheitsbeteiligungen anstreben und hätten somit keine echte wirtschaftliche Kontrolle über die angeschlossenen Praxen oder Kliniken.


Das gefällt weder den Investoren noch der EU, die ja immer eifrig dabei ist, wenn es darum geht, solche nationalen Alleinstellungsmerkmale einzustampfen. Es laufen also auf EU-Ebene intensive und besonders von Schweden und Großbritannien angeführte Bemühungen, das deutsche Kapitalbeteiligungsverbot aufzuweichen oder möglichst gleich ganz abzuschaffen. Obwohl das dafür zuständige Bundeslandwirtschaftsministerium an der bisherigen Regelung festhalten möchte, sind die Bemühungen bezüglich der Abschaffung keineswegs chancenlos, eher im Gegenteil, weshalb wohl auch jetzt aktuell das Gerangel um eine möglichst günstige Ausgangsposition begonnen hat.


Wie schnell es gehen könnte, wenn sich die Gesetzeslage im Sinne solcher Klinikketten zum Positiven verändern sollte, sieht man am Beispiel Schweden. Innerhalb von gerade mal drei Jahren haben die beiden Klinikbetreiber AniCura (55 Kliniken) und Evidensia (90 Kliniken) mehr als die Hälfte des schwedischen Marktes unter ihre Kontrolle gebracht.


Wie schon in der Einleitung angesprochen, kann man hier in der Region gerade live und in Farbe beobachten, wie man sich als Klinikketten-Betreiber in Erwartung der angestrebten Gesetzesänderungen schon mal einen guten Start verschafft. Innerhalb weniger Monate tauchte der Begriff AniCura plötzlich im Namen mehrerer Praxen und Kliniken auf, so dass man davon ausgehen kann, dass hier die Keimzelle eines Netzes gebildet werden soll. Dieser Vorgang ist bisher allenfalls Insidern bewusst. Diejenigen, die am Ende am meisten betroffen sein werden, nämlich Sie, die Tierbesitzer, ahnen nichts, was der Grund für meinen Artikel ist.


Die mir bisher bekannten AniCura-Praxen/Kliniken sind:


-Regional von besonderem Interesse: Die AniCura Tierärztliche Klinik Neu-Ulm GmbH, vormals Kleintierklinik Dr. Neuhofer


-Das AniCura Kleintiermedizinische Zentrum Hüttig in Reutlingen, vormals Kleintierklinik Hüttig


-Die AniCura Kleintierspezialisten Ravensburg GmbH, vormals Kleintierklinik am Hochberg. Hier werden als Geschäftsführer die beiden Klinikgründer (also Tierärzte) und ein Thomas Engzell genannt, der seit 2014 als Direktor für Merger & Acquisition der AniCura Group in Schweden firmiert. Die Ravensburger Klinik ist sicher ein Sonderfall, weil vier weitere Praxen im Umland als Kooperationspraxen an sie angeschlossen sind. Nach Auffassung des Blogs „Wir sind Tierarzt“ könnte das der Test eines sogenannten Hub-Modells sein, bei dem einer zentralen AniCura-Klinik mehrere Satelliten-Praxen zugeordnet werden.


Außerhalb unserer Region wären noch zu erwähnen:


-Die AniCura Tierärztliche Spezialisten Hamburg GmbH von Jens und Monika Linek


-Die Tierklinik Hollabrunn des Kollegen Günter Schwarz in Österreich, wo die AniCura wohl jetzt auch aktiv wird.


Im Rahmen der bereits erläuterten rechtlichen Rahmenbedingungen in Deutschland könnte die AniCura-Kette bisher eigentlich nur Minderheitsbeteiligungen an den genannten tiermedizinischen Einrichtungen halten. Dabei wird es aber sicher nicht bleiben. In Skandinavien ist die AniCura eigentlich immer der hundertprozentige Eigentümer der zur Gruppe gehörenden Praxen und Kliniken. Man kann also davon ausgehen, dass das Unternehmen bei Änderung der gesetzlichen Rahmenbedingungen über ein eventuell vertraglich vereinbartes Vorkaufsrecht früher oder später die für das Modell gewonnenen Praxen und Kliniken komplett übernehmen wird. Oder schafft die AniCura jetzt schon einfach Tatsachen, indem sie gezielt gegen die bestehenden Regelungen verstößt und es auf einen Musterprozess ankommen lässt, den die zuständigen deutschen Behörden eventuell erst gar nicht mehr riskieren wollen, weil keine Aussicht auf Erfolg bestünde? Ich weiß es nicht. Nach meinen Informationen ist übrigens auch Evidensia, der größte Konkurrent der AniCura, bereits auf dem deutschen Markt zugange.


Womit wir bei der eingangs schon erwähnten Kernfrage des Artikels wären: Gut oder schlecht? Diese Frage werden wir wohl getrennt nach Tiermedizinern und Patientenbesitzern beantworten müssen.


Für die deutschen Tierärztinnen und Tierärzte kann man dieser Entwicklung durchaus den einen oder anderen positiven Aspekt abgewinnen. Der Markt kommt in Bewegung, was zu Wertsteigerungen bei alt eingesessenen und gut etablierten Praxen führen könnte, auch bei solchen, die gar nicht direkt im Fadenkreuz der Ketten sind. Durch den in den letzten Jahren immer mehr zunehmenden Anteil an Tierärztinnen hat der Drang zur eigenen Praxis deutlich nachgelassen. Frauen legen in der Mehrzahl Wert auf eine ausgeglichene Work-Life-Balance und favorisieren deshalb oft Teilzeitbeschäftigungsmodelle als Angestellte. Solche Arbeitsverhältnisse anzubieten, die zum Beispiel auch einfache Wohnort- und Arbeitsplatzwechsel innerhalb des Unternehmens ermöglichen, wird sicher eine der Stärken so großer Ketten sein.


Für unsere Patienten sehe ich die Lage deutlich kritischer. Im Moment kann man für jede deutsche Tierarztpraxis oder Tierklinik sagen: Hier kocht der Chef! Einer oder mehrere tierärztliche Inhaber/innen tragen sowohl in medizinischer als auch in unternehmerischer Hinsicht die volle Haftung und das volle Risiko. Die Motivation, permanent auf Draht zu sein, möglichst keine Fehler zuzulassen, ist unter diesen Umständen systemimmanent. Da sehe ich Veränderungen kommen, die sich hauptsächlich in den Köpfen abspielen werden. Als Angestellter muss man einfach nicht diesen Grad an Verantwortung auf sich laden wie als Eigentümer.


Viel dramatischer ist aber Folgendes: Bisher sind die deutschen Praxis- und Klinikchefs gezwungen, unter Einhaltung ethischer Rahmenbedingungen den Spagat zwischen wirtschaftlichem Erfolg und Patientenwohl irgendwie hinzubekommen, was nach meiner Einschätzung sehr vielen recht ordentlich gelingt, obwohl wir alle in erster Linie ziemlich gute Tierärzte, aber ziemlich schlechte Kaufleute sind. Wir haben definitiv nicht Tiermedizin studiert, um Millionäre zu werden. Die meisten von uns arbeiten tatsächlich mit den folgenden Sätzen aus unserer Berufsordnung im Kopf und halten sie für die oberste Maxime ihres Berufslebens: "Der Tierarzt ist der berufene Schützer der Tiere. Er ist berufen (...) Leiden und Krankheiten der Tiere zu verhüten, zu lindern und zu heilen und das Leben und Wohlbefinden der Tiere zu schützen...".


In den Praxen und Kliniken aber, die vollständig unter der Kontrolle von einzig und allein an der Vermehrung ihres Kapitals interessierten Investoren stehen, dürften zwangsläufig nicht mehr Tierärzte mit ihrem patientenorientierten ethischen Grundgerüst das Sagen haben, sondern völlig berufsfremde Kaufleute, die ihre taktischen und strategischen Entscheidungen weitab vom Ort des Geschehens treffen, und das einzig und allein auf der Basis betriebswirtschaftlicher Kennzahlen.


Nach Informationen von "Wir sind Tierarzt" ist die AniCura 2011 aus dem Zusammenschluss von vier Tierkliniken entstanden. Bereits im gleichen Jahr beteiligte sich der Private-Equity-Investor Fidelio Capital, und 2014 schließlich stieg zusätzlich Nordic Capital mit sage und schreibe 100 Millionen Euro in die Klinikkette ein. Diese Firmen verwalten das Geld von Leuten, die eine sehr gute Rendite auf ihr Kapital erwarten und diesbezüglich nicht den geringsten Spaß verstehen.


Jedem meiner gut informierten Leser werden schon die Ohren klingeln von den Meldungen über die Verrohung der Sitten im humanmedizinischen Bereich. Seit Kliniken zu gewinnorientiertem Handeln gezwungen sind, schwingen dort eben auch nicht mehr die Ärzte, sondern die Kaufleute das Zepter, und das mit aus Sicht der Patienten höchst unerwünschten Nebenwirkungen. Der Patient wird nicht mehr in erster Linie als solcher, als leidender Mensch, wahrgenommen, sondern als Einnahmequelle. Vom Chefarzt bis zum kleinen Assistenten hat das ärztliche Personal ein von den Betriebswirtschaftlern aufgestelltes Plansoll zu erfüllen. Wer das nicht hinbekommt, eventuell weil er mehr auf das Wohl des Patienten achtet als auf wirtschaftliche Kennzahlen, wird zum berufsfremden Klinik-Geschäftsführer zitiert, bekommt den Kopf gewaschen und im schlimmsten Fall keine Verlängerung seines Arbeitsvertrages. Die Folge davon ist nach Meinung vieler Experten, dass in Deutschland unzählige diagnostische und therapeutische Maßnahmen durchgeführt werden, die aus strikt medizinischer Sicht gar nicht notwendig wären.


Man braucht nicht viel Fantasie, um sich vorstellen zu können, dass genau die gleiche Entwicklung in der Tiermedizin einsetzen könnte, sobald Praxen und Kliniken unter die alleinige Kontrolle von Investoren geraten. Ich gehe sogar davon aus, dass die zum jetzigen Zeitpunkt mit der AniCura verbandelten Praxen und Kliniken bereits heute unter genauer betriebswirtschaftlicher Beobachtung durch den Investor und unter dem Druck stehen, ihre Fähigkeit zur Gewinnmaximierung zu demonstrieren. Ich lasse mich gern eines Besseren belehren, aber in meinen Augen besteht unter solchen Umständen die Gefahr, dass bestimmte ethische Gesichtspunkte unter die Räder kommen.


Auch noch erwähnt werden muss ein letzter Punkt, der sich für die Tierärzteschaft positiv, für die Patientenbesitzer aber negativ auswirken könnte: Deutschland ist unter den Ländern mit vergleichbarem Lebensstandard tiermedizinisch eher ein Billigland. Die skandinavischen Tierarzt-Ketten sind da ein ganz anderes Preisniveau gewöhnt und werden dieses auch hierzulande nach und nach durchzusetzen versuchen.


Alles in allem sehe ich also für Sie als Patientenbesitzer fast nur Nachteile in der sich ankündigenden Entwicklung: Tiermedizin wird - analog zur bedauerlichen Entwicklung in der Humanmedizin - wohl teurer, gewinnorientierter und deshalb vielleicht auch ein Stück unethischer werden. Der in der heutigen Zeit der Globalisierung immens wichtige Kaufe-Lokal-Gedanke, der dafür sorgen soll, dass ausgegebenes Geld möglichst der eigenen Region zugute kommt, wird durch solche von internationalen Großinvestoren gesteuerten Klinik-Ketten untergraben, da der größte Teil des Gewinns ganz woanders ankommt.


Damit wir uns nicht falsch verstehen: Ich mache keiner Kollegin und keinem Kollegen einen Vorwurf, die / der an die AniCura oder an Evidensia verkauft hat oder noch verkaufen wird. Diese Unternehmen haben viel Geld zur Verfügung und machen wahrscheinlich Angebote, die man fast nicht ablehnen kann. Die Besitzer(innen) relativ großer Praxen und Kliniken haben oft ein Problem, eine Nachfolgerin bzw. einen Nachfolger zu finden, die / der finanzkräftig genug wäre, den Laden zu übernehmen. Mit einem Verkauf an eine Kette ist man diese Sorge mit einem Schlag los und hat seine lebenslange Aufbauleistung ziemlich stressarm zu Geld gemacht. Der Dumme bei dem Geschäft sind eigentlich nur Sie als Kunden. Gut etablierte Tierkliniken haben ja nicht dadurch auf einem hart umkämpften Markt überlebt, weil sie bisher schlechte Arbeit geleistet hätten. Durch den Verkauf an eine Kette kann es aus Kundensicht aber eigentlich nur schlechter werden: Schnelle Personalrotation, kein im rechtlichen Sinne direkt verantwortlicher Ansprechpartner, bei juristischen Auseinandersetzungen gerät der Kunde mit der Rechtsabteilung eines Großunternehmens aneinander, das ständige Misstrauen, dass einem therapeutische und diagnostische Verfahren angedreht werden, die eigentlich nicht nötig wären, und so weiter und so fort.


Eine Zeit lang haben Sie als Kunden noch die Möglichkeit, mit den Füßen darüber abzustimmen, ob Ihnen diese Veränderungen gefallen oder nicht. Je mehr Kliniken diese Unternehmen und die dahinterstehenden Investoren aber unter ihre Kontrolle bringen, desto mehr wird Ihre Wahlfreiheit eingeschränkt werden. Das gilt auch für mich als Inhaber einer Haustierarztpraxis, der Patienten an Spezialisten in Kliniken überweist. Im Moment ist es für mich kein Problem, mein Überweisungsverhalten unter anderem daran auszurichten, ob die betreffende Klinik noch unter der Kontrolle von Kolleginnen und Kollegen steht oder schon von Betriebswirtschaftlern und Controllern gesteuert wird. Ab einem gewissen Grad der Marktdurchdringung werden aber weder Sie noch ich eine große Wahl haben. Noch besteht für mich die Hoffnung, dass die internationalen Ketten den deutschen Markt falsch einschätzen, dass die deutschen Tierhalter kein gutes Gefühl bei diesem Modell haben und durch entsprechendes Kundenverhalten unser Land unattraktiv für diese Unternehmen machen. Sehr groß ist diese Hoffnung aber nicht, wie ich zugeben muss. Zu McDonald's oder Starbucks geht ja angeblich auch keiner und trotzdem sind die Läden immer gut besucht.


Eine wichtige Quelle für diesen Artikel war der Bericht von Jörg Held im tiermedizinischen Blog "Wir sind Tierarzt".


Bleiben Sie uns gewogen, bis bald, Ihr


Ralph Rückert


 


© Kleintierpraxis Ralph Rückert, Bei den Quellen 16, 89077 Ulm / Söflingen


Sie können jederzeit und ohne meine Erlaubnis auf diesen Artikel verlinken oder ihn auf Facebook bzw. GooglePlus teilen. Jegliche Vervielfältigung oder Nachveröffentlichung, ob in elektronischer Form oder im Druck, kann nur mit meinem schriftlich eingeholten und erteilten Einverständnis erfolgen. Von mir genehmigte Nachveröffentlichungen müssen den jeweiligen Artikel völlig unverändert lassen, also ohne Weglassungen, Hinzufügungen oder Hervorhebungen. Eine Umwandlung in andere Dateiformate wie PDF ist nicht gestattet. In Printmedien sind dem Artikel die vollständigen Quellenangaben inkl. meiner Praxis-Homepage beizufügen, bei Online-Nachveröffentlichung ist zusätzlich ein anklickbarer Link auf meine Praxis-Homepage oder den Original-Artikel im Blog nötig.