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Kuhherde tötet Wanderin

30.07.2014
Von Ralph Rückert, Tierarzt

Am Montagabend ging folgende Meldung über die Newsticker: Neustift im Stubaital - Eine 45-jährige Wanderin aus Bad Dürkheim in Rheinland-Pfalz ist auf einer Alm im Stubaital in Österreich von 20 Kühen und Kälbern attackiert und tödlich verletzt worden. Wie die Polizei berichtete, war die Frau am Montag in dem eingezäunten Bereich in Tirol mit ihrem Hund auf einem Wanderweg unterwegs, als die Tiere plötzlich auf sie zuliefen und sie bedrängten. Laut Behörden sah es die Herde vermutlich auf den angeleinten Hund der Frau ab. Sie wurde an Ort und Stelle rund 45 Minuten lang reanimiert, starb jedoch an ihren Verletzungen, wie die ÖAMTC-Flugrettung der Nachrichtenagentur APA mitteilte.

Der Hund der Frau riss sich übrigens während des Vorfalls los und wurde nach neuesten Meldungen später unverletzt aufgegriffen.

So gut wie jeder, der wie wir gern (mit oder ohne Hund) in den Bergen wandert, hat schon Almwiesen überquert, auf denen Kuhherden standen. In den wenigsten Fällen ist das ein Problem, aber manchmal kann es leider richtig brenzlig werden.
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Die meisten Wanderwege - manchmal sogar Autostraßen - in den Alpen führen über Almwiesen. Auch die getötete Frau war nicht etwa auf Abwegen, sondern auf einem ganz offiziellen Wanderweg, als es zu dem Unglück kam. Ist es also generell gefährlich, eine Almwiese mit Kühen zu durchqueren, speziell mit einem Hund an der Leine, wie in der Nachrichtenmeldung vermutet? Aus der allgemeinen Lebenserfahrung heraus - und die Statistik bestätigt das - kann man behaupten, dass es eigentlich nicht gefährlich ist, vorausgesetzt, man schätzt die Situation richtig ein und verhält sich bei auftretenden Problemen entschlossen.

Halbwegs erfahrene Bergwanderer wissen, wann sie eine Almwiese betreten, da man dazu meist ein Gatter durch- oder überqueren muss. Es macht durchaus Sinn, sich bei dieser Gelegenheit mal umzusehen, um eventuell erkennen zu können, was für Kühe da stehen. In über 90 Prozent der Fälle wird es sich dabei um Jungrinder handeln, also Tiere, die noch nicht gekalbt haben. Hier müssen Sie mit der für jugendliche Tiere allgemein üblichen Neugier und Unternehmungslust rechnen. Speziell wenn man einen Hund dabei hat, ist die ganze Herde oft sehr interessiert und rottet sich spontan zusammen, für den mit Kühen nicht vertrauten Städter manchmal mit bedrohlicher Geschwindigkeit. Dabei ist erstmal kein Aggressionsverhalten im Spiel und gefährlich kann es nur durch die Anzahl und das enorme Gewicht der Tiere werden. Die weiter hinten stehenden Jungrinder drängeln, wodurch es für den Wanderer in der Mitte plötzlich sehr eng werden kann. Da die Tiere eben nur neugierig sind, lassen sie sich meist problemlos auf Abstand halten. Sich hoch aufrichten, die Arme hochreissen, laut rufen oder mit der flachen Hand Klatscher auf die Haut verteilen bringt die Tiere zum Zurückweichen. Sehr wichtig ist dabei aber, auf einen sicheren Stand zu achten. Sollte man unter dem Druck der Herde hektisch werden, stolpern oder gar zu Boden gehen, kann aus einer an sich harmlosen Situation akute Lebensgefahr erwachsen. Die typischerweise auf einer Almwiese anzutreffenden Jungrinder können in der Wandersaison im Spätsommer bereits über 300 Kilogramm schwer sein. Wenn man da mal am Boden liegt und (durchaus ohne Absicht) getreten wird, kann das böse ins Auge gehen.

Kein verantwortlich handelnder Landwirt wird je geschlechtsreife Bullen auf eine Almwiese stellen, die von einem offiziellen Wanderweg durchquert wird. Trotzdem der Hinweis: Sollten Sie einen mehr oder weniger ausgewachsenen Bullen erkennen können, dürfen Sie die betreffende Wiese auf gar keinen Fall betreten. Das wäre ohne jede Übertreibung absolut lebensgefährlich!

Im Fall der getöteten Wanderin haben wir es mit einem Sonderfall zu tun, denn sie wurde von einer Mutterkuhherde angegriffen. Die österreichischen Behörden werden wohl gegen den Halter der Rinder Ermittlungen einleiten. Ich bin gespannt, was dabei herauskommt. Aus meiner Sicht sollte eine Mutterkuhherde ebenfalls nicht auf einer Weide stehen, die von einem Wanderweg durchquert wird, denn Mutterkühe können zum Schutz ihrer Kälber sehr wohl gefährlich aggressiv werden. Ob und wie sehr ein mitgeführter Hund diese Aggressionsneigung noch verstärken kann, sei dahingestellt. Nach neueren Presseberichten wurde vor dem Unglück ein anderer Wanderer, der ohne Hund unterwegs war, ebenfalls auf gefährliche Weise bedrängt. Wie dem auch sei: In dem sicher seltenen Fall, dass Sie bei einer Wanderung erkennen, dass auf der Alm, die Sie durchqueren wollen, eine Mutterkuhherde steht, müssen Sie sich vor dem Betreten der Weide ein paar Gedanken machen. Sollte es Ärger geben, haben Sie es mit (eventuell gehörnten) Tieren von über einer halben Tonne Gewicht zu tun, die trotz ihrer scheinbaren Schwerfälligkeit schneller rennen können als ein Mensch. Wenn so eine Herde anfängt, Sie zu bedrängen, müssen Sie sich sehr entschlossen verhalten: Nicht weglaufen, Arme hoch, richtig laut schreien und bei Gefahr richtig fest zuschlagen, und das durchaus im Kopf- und Gesichtsbereich. Ein stabiler Stock oder Knüppel kann da sehr hilfreich sein, denn die heute üblichen Leichtwanderstöcke gehen mit Sicherheit gleich beim ersten Schlag kaputt. Sie dürfen sich nicht einquetschen lassen oder gar zu Boden gehen. Sollte sich die Aufmerksamkeit der Kühe tatsächlich auf Ihren Hund konzentrieren, dann lassen Sie diesen möglichst laufen. Dadurch lenken Sie von sich selbst ab, und der Hund hat aufgrund seiner Geschwindigkeit und Beweglichkeit viel bessere Chancen, aus der Situation zu entkommen.

Trotz allem: Wir reden hier von einem sicher sehr seltenen und sehr unglücklichen Ereignis. Die drei beigefügten Bilder zeigen dagegen den Normalfall. Also keine Panik, nur gesunde Vorsicht!

Nachtrag: Gerade heute, am 5. März 2015, schrieb mir mein Kollege und Freund Dr. Peter Schön aus Kufstein, dass sich ein mitgeführter Regenschirm, den man rasch auf und zu klappt, als sehr wirkungsvolle Abschreckungsmaßnahme gegen angriffslustige Rindviecher erwiesen habe. Da ich öfter Wanderer mit Regenschirm sehe, könnte dieser Hinweis ja durchaus hilfreich sein.

Bleiben Sie uns gewogen, bis bald, Ihr

Ralph Rückert

© Kleintierpraxis Ralph Rückert, Bei den Quellen 16, 89077 Ulm / Söflingen