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Gedanken zum Leiden

20.11.2014
Von Ralph Rückert, Tierarzt

"Ich will auf keinen Fall, dass sie/er leidet!" Ein Satz, den wir so oder ähnlich formuliert sehr häufig hören, meist als Einleitung für eine Argumentation in Richtung Euthanasie. Des öfteren kann ich diese Willensäußerung nachvollziehen und ihr voll und ganz zustimmen, manchmal aber auch überhaupt nicht. Leid - das wirkt auf den ersten Blick wie ein ganz einfacher und konkreter Begriff. Aber was ist Leid genau? Und in welchen Fällen ist das Leiden eines Haustieres inakzeptabel, in welchen hinzunehmen?
Bei solchen Erörterungen versuche ich mich immer vergeblich zu erinnern, was wir nur früher ohne Wikipedia gemacht haben. Beginnen wir also mit der dortigen Definition von Leid:

"Leid ist eine Grunderfahrung und bezeichnet als Sammelbegriff all dasjenige, was einen Menschen körperlich und seelisch belastet. Unter anderem werden die Nichterfüllung von Bedürfnissen, Hoffnungen und Erwartungen, der Verlust von nahestehenden Individuen, die Trennung von sozialen Gruppen, äußere Zwänge und Begrenztheiten, Alter, Krankheit, Tod und Schmerzen als Leid empfunden. Leid ist immer subjektiv. Was tatsächlich als Leid empfunden wird, hängt vom Individuum ab, also von eigenen Erfahrungen und Einstellungen."

In diesem Zitat ist nur vom Menschen die Rede. Können Tiere überhaupt leiden entsprechend der obigen Definition? Manche dieser Punkte, die speziell die Psyche betreffen und die eventuell von höheren Verstandesleistungen abhängig sind, kann man sicher nicht eins zu eins auf ein Tier übertragen. Trotzdem ist psychisches Leid, gerade durch Verlustsituationen, für jeden offensichtlich, der einmal die Reaktionen eines Hundes erlebt hat, der eine menschliche Bezugsperson oder ein ihm vertrautes Tier verloren hat. Was Krankheit und Schmerzen angeht, können Tiere selbstverständlich genau so leiden wie wir Menschen. Der Aufbau ihres Nervensystems entspricht haarklein dem unseren; kein Grund also, von einem anderen, gar geringeren Schmerzempfinden auszugehen.

Wenn wir weiter unterscheiden zwischen akuten und chronischen Schmerzen, so können wir feststellen, dass akuter Schmerz ganz exakt so wie bei uns Menschen beantwortet wird, nämlich in der Regel durch Lautäußerung, Meidebewegung, Flucht oder Aggression. Chronischer Schmerz dagegen wird von vielen Tierarten oft scheinbar stoisch ertragen, was uns aber nicht zu dem Fehlschluss verleiten sollte, dass Tiere nicht dauerhaft leiden könnten. Durch die fehlende Fähigkeit des Nachdenkens über Vergangenheit und Zukunft (Wie lange tut das jetzt schon weh und wie lange soll das so weitergehen?) fällt es Tieren aber eventuell leichter, sich mit chronischen Leidenszuständen irgendwie zu arrangieren. Die körperlichen Folgen langfristiger Schmerzen sind aber genau die gleichen wie bei uns: Permanente Ausschüttung von Stresshormonen, daraus resultierende Stress-Gastritis oder chronische Blasenentzündungen, Schädigung der Immunabwehr, zunehmende Gereiztheit und Aggression, Verlust der Lebensfreude, eventuell auch Übergang in Teilnahmslosigkeit, und so weiter.

Diejenigen Verhaltensweisen, die direkt mit dem Überleben verbunden sind, also speziell die Futteraufnahme, werden durch chronisches Leiden erst ganz zuletzt negativ beeinflusst. Die weit verbreitete Ansicht, ausreichende Nahrungsaufnahme als Signal für Leidensfreiheit zu werten, ist grundverkehrt. Tiere versuchen selbst unter größten Schmerzen, möglichst nicht zu verhungern. Ein Professor der Uni Wien hat es mal mit typischem lokalen Zungenschlag so ausgedrückt: "Noh, wann's (die Katze) nit frisst, dann stirbt's, also frisst's halt." Wie oft aber bekommen wir ein oder zwei Wochen nach einer Zahnsanierung einen begeisterten Anruf der Besitzer, dass Katze oder Hund um Jahre verjüngt wirken und plötzlich wieder spielen würde. Mit der im Rückblick typischen hundertprozentigen Sehschärfe erkennt man dann plötzlich, wie schlimm der zuvor bestehende Leidensdruck gewesen sein muss.

Kommen wir zurück zu dem in der Einleitung erwähnten Wunsch des Besitzers, sein Tier nicht leiden lassen zu wollen. Welche Formen von Leiden und Schmerzen sind akzeptabel oder sogar rechtlich bindend zu akzeptieren, welche nicht? Man kann es eigentlich recht kurz und bündig auf den Punkt bringen: Ein Tier hat (wie wir Menschen) weder eine Garantie noch ein Recht auf ein Leben, das komplett frei von Leid und Schmerz verläuft. In unserer Obhut hat es aber durchaus das Recht, vor ausweglosen Qualen bewahrt zu werden. Dementsprechend kann man feststellen:

- Eine auf dem Weg zur Wiederherstellung der Gesundheit zu durchlaufende und überschaubare Leidenszeit (zum Beispiel in Folge einer Operation) ist akzeptabel, zumal wir heutzutage in der Lage sind, dieses Leiden gut erträglich zu gestalten. Diese Form zeitweiligen Leids stellt auch rechtlich gesehen keinen vernünftigen Grund für eine Euthanasie im Sinne des Tierschutzgesetzes dar.

- Auch Beschwerden oder Leiden, die offensichtlich nicht mehr endgültig zu beheben sind (degenerative Veränderungen wie Arthrosen, Behinderungen durch Unfallfolgen, etc.), können durch entsprechende therapeutische Maßnahmen in vielen Fällen so gut abgemildert werden, dass sie hinnehmbar sind. Auch in solchen Fällen ist eine Euthanasie rechtlich nicht begründbar.

- Eine Grauzone stellen sogenannte terminale Beschwerden dar, die ganz klar mit dem Tod des Patienten enden werden. Diese können zwar, müssen aber nicht zwangsläufig Grund für eine Euthanasie sein, vorausgesetzt, dass sie durch entsprechende Gegenmaßnahmen im erträglichen Bereich gehalten werden können. Ein Tier kann unter bestimmten Umständen und fachkundig begleitet sehr wohl eines natürlichen Todes sterben und muss nicht zwanghaft eingeschläfert werden.

- Eine klare Indikation für eine Euthanasie stellen dagegen Zustände dar, die erstens hoffnungslos sind und zweitens nur sehr schlecht oder gar nicht abgemildert werden können. Auswegloses Leiden ist bei uns anvertrauten Tieren nicht akzeptabel. Dieser Gesichtspunkt beschränkt sich nicht nur auf Schmerzzustände, sondern, so seltsam das für manchen klingen mag, auch auf die Würde eines Tieres. Ein Hund, der als Welpe mühsam zur Stubenreinheit erzogen worden ist und sein Leben lang sauber war, ist nach unserer Überzeugung tatsächlich in seiner Würde verletzt und leidet entsprechend, wenn er durch altersbedingte Veränderungen plötzlich Harn oder Kot nicht mehr halten kann.

- Eine Einschläferung ist für uns auch klar angezeigt, wenn sie durchgeführt wird, um einen unmittelbar drohenden, mit Angst, Schrecken und schwersten Qualen einhergehenden Verlauf zu verhindern. Als Beispiel: Ein Tier, das sich erkennbar im Endstadium einer dekompensierten Herzerkrankung befindet, kann spontan ein Lungenödem (Wasser in der Lunge) entwickeln und dann innerhalb einer halben Stunde qualvoll ersticken. Kommt es dazu zu einem ungünstigen Zeitpunkt (Tier ist allein, bei Nacht, am Wochenende), wäre das ein schreckliches Ereignis für alle Beteiligten. In solchen Fällen schläfert man das Tier besser eine Woche zu früh als eine Stunde zu spät ein.

Bleiben Sie uns gewogen, bis bald, Ihr

Ralph Rückert


© Kleintierpraxis Ralph Rückert, Bei den Quellen 16, 89077 Ulm / Söflingen

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