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Homo erectus und Urwolf: Das sollen Vorbilder sein?

02.03.2016

Von Ralph Rückert, Tierarzt


Wenn Sie gerade überlegen, was Sie Ihrer Familie heute zum Abendessen servieren wollen, wenn Sie sich gerade fragen, wie Sie auf den Fünfer in der Mathearbeit Ihrer Tochter angemessen reagieren sollen, wenn Sie sich gerade den Kopf zermartern, wie Sie die hübsche Blondine aus dem Büro nebenan auf sich aufmerksam machen könnten, interessiert es Sie dann, was der Typ auf dem Bild sich als Abendmahlzeit gegönnt, wie er seine Kinder erzogen und wie er sich seine Lebensabschnittsgefährtin geangelt hat? Von einzelnen Anhängern der Steinzeit-Diät mal abgesehen: Wohl eher nicht, oder?

Bild zur Neuigkeit

Nur was unsere Hunde angeht, scheint man sich ständig fragen zu müssen, was denn der Wolf so alles getrieben haben mag. Unter Berücksichtigung der zehn Mal schnelleren Generationenfolge ist der (übrigens nicht mehr existente) Wolfsvorfahr genau so weit vom modernen Hund entfernt wie Homo erectus vom modernen Menschen. Trotzdem geistert dieser Paläo-Wolf ständig durch alle Diskussionen um die Frage, was für unsere Hunde "natürlich" und "artgerecht" sein soll.


"Der Wolf geht nicht ins Getreidefeld!"


"Ich habe noch keinen Wolf gesehen, der sich die Zähne putzt!"


"Hierbei versucht man so weit wie möglich die Ernährung eines wild lebenden Kaniden, wie zum Beispiel die des Wolfes, zu imitieren."


Keine Tierart wurde vom Menschen züchterisch derart stark modifiziert und an verschiedenste Anforderungen angepasst wie der Hund. Unter Berücksichtigung dieser Tatsache und in Anbetracht des (in Generationen gemessen) riesigen Abstandes zwischen dem gemeinsamen Wolfsvorfahren und den meisten heutigen Hunderassen erscheint es mir geradezu absurd, sich in Fragen der Ernährung, des Sozialverhaltens und der Ausbildung auf den Wolf zu beziehen, noch dazu auf den modernen Wolf, der mit diesem gemeinsamen Urahn wahrscheinlich auch nicht mehr wirklich vergleichbar sein dürfte.


So richtig lustig wird es für mich dann, wenn ich so ein Argument lese:


"Aus verhaltenspsychologischer Sicht halte ich es für höchst bedenklich zu behaupten, wir könnten unsere Hunde artgerecht halten. Vergleicht man die Genetik unserer 'Stubenwölfe' mit freilebenden Kollegen, so sind nach wie vor mindestens 95% der Gene unserer Haushunde wölfisch, eher mehr."


Ich frage mich, ob der Verfasserin dieser Zeilen bewusst ist, dass unsere eigene genetische Ausstattung zu 98,5 Prozent mit der des Schimpansen übereinstimmt, oder - humorvoller ausgedrückt - die Gene eines modernen Mannes sich weniger von denen eines Menschenaffen unterscheiden als von denen einer modernen Frau.


Langer Rede kurzer Sinn: Es ist ja okay, sich ständig und immer wieder neu zu fragen, was sowohl uns als auch unseren Hunden gut tut. Dabei sollten wir aber vernünftigerweise diesen ollen Urwolf genau so aus dem Spiel lassen wie den keulen- und faustkeilschwingenden Grobian Homo erectus. Sowohl der Mensch als auch sein Begleiter Hund sind hochgradig anpassungsfähige Lebewesen, Siegertypen der neueren Evolutionsgeschichte. Was unsere Vorfahren anno dunnemal so getrieben und gefuttert haben, wie sie insgesamt gelebt haben, kann heutzutage keine rechte Orientierungshilfe mehr bieten. Bei der Frage, wie ich einen Zwergspitz artgerecht halten soll, hilft mir ein Blick auf die Lebens- und Ernährungsweise eines prähistorischen Urviechs keinen Zentimeter weiter und verstellt mir nur die Sicht auf die wirklich gültigen Antworten.


Bleiben Sie uns gewogen, bis bald, Ihr


Ralph Rückert


 


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