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Impfneid - unvermeidlich, aber unnötig und doof!

03.04.2021

Von Ralph Rückert, Tierarzt


Nein, es läuft - wie von der Weltgesundheitsorganisation WHO dieser Tage offiziell attestiert - nicht wirklich gut mit dem Impfen hier in Deutschland. Neben wirklich schweren und annähernd unverzeihlichen Fehlern bei der Impfstoffbestellung durch die EU ist dafür in meinen Augen nicht zuletzt das typisch deutsche Bemühen um möglichst unangreifbare Perfektion verantwortlich. Die Politik hat (natürlich!) klar vorausgesehen, dass gerade wir Deutschen mit einer einerseits pragmatischen, andererseits genau dadurch fehlerbehafteten Vorgehensweise so gar nicht umgehen können.


Mein Beleg für diese Sichtweise sind die inzwischen allerorten aufflammenden Impfneid-Diskussionen nach dem Motto "Was? Du mit Deinen 35 Jahren bist geimpft, während ich, 72 Jahre alt und vorerkrankt, immer noch keinen Termin bekommen habe? Und das nur, weil du Dir irgendein Pflegeverhältnis zu deiner Mutter aus den Fingern gesogen hast, die immer noch jünger ist als ich?"

Ich kann da durchaus mitfühlen, weil es mir - so ganz tief drin in meinem primitiven Reptilienstammhirn - erst mal nicht anders geht. Wir haben ja berufsbedingt jeden Tag sehr viele Kundenkontakte, bei denen es natürlich auch immer mal wieder um dieses alles beherrschende Thema geht, und ganz klar muss auch ich kurz trocken schlucken, wenn ich mitbekomme, dass kerngesunde Leute, die nicht mal halb so alt sind wie ich, irgendwie einen Impftermin ergattern konnten, während mir das noch nicht gelungen ist. Allerdings reicht einmal trocken Schlucken aus, um sogleich meine Großhirnrinde ins Spiel zu bringen und mir klar zu machen, wie unsinnig diese Neid-Impulse sind.


Wir haben eine Pandemie unter Kontrolle zu bekommen! Dazu ist es grundsätzlich nötig, von einer individuellen zu einer epidemiologischen Sichtweise umzuschalten, so schwierig das für unsere primitiven Hirnanteile auch sein mag. In der Epidemiologie geht es immer um die Wucht der großen Zahl! Auf einem individuellen Level ist SARS-COV-2 gar nicht sooo gefährlich. Je nach Alter und Vorerkrankungen hat man ja eine weit über 90 Prozent liegende Chance, dass eine etwaige Infektion völlig harmlos verläuft. In der Masse aber, auf dem epidemiologischen Level, ist Covid-19 eben doch richtig giftig, eben durch die Wucht der großen Zahl. Es werden nun mal genug Leute so schwer krank, dass moderne Gesundheitssysteme einfach nicht mehr nachkommen. Wir haben in mehreren Ländern unmissverständlich demonstriert bekommen, was bei völligem Kontrollverlust passiert. Nur zur Erinnerung: Aktuell sterben in Brasilien an die 30.000 infizierte Menschen pro Woche!


Zu dem gleichen kühlen, epidemiologischen Blickwinkel müssen wir uns bezüglich des Impfens zwingen. Es geht (so fremdartig uns dieser Ansatz auch vorkommen mag) nicht um das jeweilige Individuum, also um uns persönlich, sondern um die Masse, um uns alle. Die vorhandenen Impfdosen müssen rein in die Leute, mehr oder weniger egal, in welche. Jede(r) einzelne Geimpfte verbessert die epidemiologische Gesamtsituation, entlastet das Gesundheitssystem und verringert das Risiko für die Entstehung von Escape-Varianten des Virus, die den Effekt der momentan vorhandenen Impfstoffe wieder zunichte machen und uns noch jetzt - auf den letzten Metern der Zielgerade - zu Fall bringen könnten.


Wir müssen uns außerdem klar machen: Ein wirklich gerechtes System der Verteilung einer zu knappen Ressource wird es nie geben, vor allem dann nicht, wenn man unter extremem Zeitdruck steht. Irgendwer wird immer - ob nun vorsätzlich oder versehentlich - durch die Maschen schlüpfen. Davon abgesehen: Selbst, wenn wir hier in Impfstoff ersaufen würden, wären speziell wir Deutschen wohl nicht in der Lage, so pragmatisch (und epidemiologisch vernünftig) vorzugehen wie beispielsweise die Amerikaner. Man stelle sich angesichts von Drive-Through-Impfzentren wie in den USA unsere typisch deutsche Bedenkenträgerei vor: Oh mein Gott, ohne gewissenhafte Überprüfung der Berechtigung! Oh mein Gott, ohne gründliche Aufklärung! Oh mein Gott, was ist, wenn da jemand beim Wegfahren einen anaphylaktischen Schock bekommt und deshalb auch noch einen Unfall baut? Und so weiter und so fort! Wir können das einfach nicht, und deshalb brauchen wir pro Impfling eine gute Stunde, statt zwei Minuten wie die Amerikaner. Also zieht sich das bei uns wie Kaugummi, zum einen wegen (noch) zu wenig Impfstoff, zum anderen wegen unserer angeborenen Korinthenkackerei. Lässt sich wohl nicht ändern!


Aber nochmal: Jede Impfdosis, die in irgendeinem Menschen landet, bringt uns voran und verbessert die Situation für uns alle! Also schielt nicht argwöhnisch rum, wer da eventuell außer der Reihe geimpft worden ist! Am Ende ist das buchstäblich scheißegal. Kümmert Euch um Euren eigenen Termin und nehmt ihn dann auch gefälligst wahr! Das Schlimmste überhaupt in der aktuellen Situation sind Leute, die zu ihrem Impftermin einfach nicht erscheinen!


Bewusste oder unbewusste "Vordrängler:innen" sind NICHT das Problem! Ich sage was ganz anderes voraus: Wenn wir (wahrscheinlich irgendwann im Sommer) über genug Impfdosen verfügen, um wirklich allen einen Termin geben zu können, werden wir eventuell feststellen müssen, dass wir zu viele Impfverweiger:innen haben, um eine belastbare Herdenimmunität der Gesamtbevölkerung zu erreichen. DAS könnte dann wirklich ein Problem sein und viele weitere Tote und noch monatelange Einschränkungen für uns alle bedeuten!


Deshalb: Verschwendet keine Sekunde mit epidemiologisch unbegründetem Impfneid! Geht online, geht ans Telefon, bei Tag und bei Nacht, und versucht, einen Termin zu bekommen! Der Impfstoff muss vom Förderband direkt rein in die Leute! Es pressiert!


Bleiben Sie uns gewogen (und gesund!), bis bald, Ihr


Ralph Rückert


 


© Kleintierpraxis Ralph Rückert, Römerstraße 71, 89077 Ulm


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